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Hinweise auf klinisch relevante Interaktion von Morphin und Clopidogrel

Aus mehreren, zum Teil auch früheren randomisierten kontrollierten Studien ist schon länger bekannt, dass Morphin und andere Opioide die Resorption verschiedener P2Y12-Inhibitoren (z.B. Ticagrelor, Clopidogrel) verzögern und deren antithrombotische Wirkung bei der Akutbehandlung des Akuten Koronarsyndroms (ACS) hemmen können. Eine sehr kleine randomisierte und plazebokontrollierte Studie an 24 gesunden Wiener Probanden fand eine verminderte Plasmakonzentration und einen verzögerten Effekt von Clopidogrel bei gleichzeitiger i.v. Injektion von Morphin gegenüber Plazebo (1). In der europäischen IMPRESSION-Studie erhielten Patienten mit akutem Myokardinfarkt randomisiert entweder Morphin oder Plazebo i.v. zusätzlich zu Ticagrelor. Dabei fanden sich eine reduzierte Plasmakonzentration und ein verminderter Effekt von Ticagrelor bei der in-vitro-Messung der Thrombozytenaggregation (2). Die als „Research Letter“ publizierte PACIFY-Studie zeigte, dass die in den USA offenbar weit verbreitete i.v. Injektion von Fentanyl bei elektiver PCI die Plasmakonzentration von Ticagrelor vermindert und den Effekt auf die Thrombozytenaggregation verzögert (3), wobei der Einsatz beider Wirkstoffe in dieser Indikation als Off-Label-Use einzustufen ist. Die klinische Relevanz dieser Befunde für Patienten mit ACS war bislang nicht bekannt. Aus größeren Studien und Registern gab es lediglich indirekte und nicht eindeutige Hinweise auf eine ungünstige Beeinflussung klinischer Verläufe (z.B. höhere Letalität) bzw. von Surrogatparametern durch Morphin (z.B.: 4, 5). Eine aktuelle Metaanalyse von 5 (Beobachtungs-)Studien mit insgesamt 3.748 Patienten mit ST-Hebungsinfarkt (STEMI), die zu ca. zwei Dritteln mit Ticagrelor und zu einem Drittel mit Clopidogrel vorbehandelt waren, hatte hingegen nicht vermehrt Reinfarkte durch eine i.v. Morphintherapie gefunden (6).

Eine jetzt publizierte Beobachtungsstudie ging nun der Frage nach, ob die Kombination von Clopidogrel und Morphin in der Akutbehandlung des ACS im Vergleich mit einer Behandlung ohne Morphin tatsächlich mit einem ungünstigeren klinischen Verlauf assoziiert ist (7). Die Autoren analysierten Daten von 5.438 Patienten aus der EARLY-ACS-Studie, die vor einer perkutanen Koronarintervention (PCI) zum Teil mit, zum Teil ohne Clopidogrel behandelt wurden. Es wurden 617 (11,3%) mit Morphin und Clopidogrel behandelt. In dieser Gruppe zeigten sich nach Propensity-Score-Matching eine signifikant um ca. 40% erhöhte Rate ischämischer Ereignisse nach 96 Stunden (Odds Ratio = OR: 1,40; 95%-Konfidenzinterval = CI: 1,04-1,87; p = 0,026) sowie eine tendenziell höhere Myokardinfarktrate und Letalität nach 30 Tagen (OR: 1,29; CI: 0,98-1,70; p = 0,072). In dieser Studie wurden 3.462 Patienten nicht mit Clopidogrel behandelt, mit dem Ergebnis, dass Morphin keine Auswirkung auf klinische Endpunkte hatte (OR: 1,05; CI: 0,74-1,49; p = 0,79 bzw.: OR: 1,07; CI: 0,77-1,48; p = 0,70). Der Effekt blieb auch trotz zweier methodisch unterschiedlicher statistischer Adjustierungen nach möglichen Störfaktoren (klinische Charakteristika, Begleitmedikation) bestehen. Die Autoren weisen darauf hin, dass es sich um eine post-hoc-Beobachtungsstudie handelt, unbekannte Confounder jedoch nicht auszuschließen sind.

Die Analyse aus der EARLY-ACS-Studie ergibt die vorläufig stärksten Belege für eine Beeinflussung klinischer Endpunkte durch eine Morphin-Clopidogrel-Interaktion bei der Akutbehandlung des ACS. Die Frage, ob dies auch für andere P2Y12-Hemmer (Ticagrelor, Prasugrel) und andere Opioide zutrifft, bleibt vorerst offen, da Daten aus klinischen Studien fehlen bzw. diskrepant sind. Der vollständige Mechanismus der Interaktion ist vorerst unklar. Ein Teilaspekt dürfte die durch Morphin verzögerte Darmmotilität und eine dadurch reduzierte Resorption oraler Arzneimittel sein. Es handelt sich somit wahrscheinlich um eine pharmakokinetische Arzneimittelinteraktion.

Da die Gabe eines potenten Analgetikums bei einem ACS (insbesondere beim STEMI) nicht immer zu vermeiden sein wird, werden von den Autoren und in einem begleitenden Editorial unterschiedliche Szenarien als mögliche Konsequenzen für die klinische Praxis diskutiert:

  1. Grundsätzlich bedarfsorientierte, aber nicht allzu großzügige Indikationsstellung für Morphin bei ACS-Patienten – insbesondere bei solchen, die mit Clopidogrel vorbehandelt wurden.

  2. Bei Patienten mit ACS, die mit Clopidogrel vorbehandelt wurden, kann eine zweite Clopidogrel-Loading-Dosis nach 6-8 Stunden in Erwägung gezogen werden. Dies erscheint insbesondere dann sinnvoll, wenn nach Ermessen des Operateurs ein hohes Risiko für eine Stent-Thrombose besteht.

  3. Alternative P2Y12-Hemmer: Clopidogrel ist nach aktuellen ACS-Leitlinien nur bei Patienten unter Dauerantikoagulation oder als Begleitmedikation bei einer systemischen Thrombolyse Mittel erster Wahl. In allen anderen Situationen werden Ticagrelor und Prasugrel bevorzugt. Möglicherweise sind diese aufgrund ihrer anderen Pharmakokinetik auch hinsichtlich der Morphin-Interaktion als günstiger anzusehen. Dies bleibt aber vorerst hypothetisch (s.o.). Auch Ticagrelor und Prasugrel werden ausschließlich oral eingenommen und enteral resorbiert. Eine denkbare und von manchen Fachleuten diskutierte Alternative wäre eine i.v. P2Y12-Hemmung mit Cangrelor. Über die kontroverse Datenlage von Cangrelor haben wir berichtet (8).

Fazit: Die beim Akuten Koronarsyndrom übliche Gabe von Morphin kann die Wirkung von Thrombozytenaggregationshemmern, wie Clopidogrel, negativ beeinflussen und – wie deutliche Hinweise aus einer aktuellen Studie zeigen – auch zu einem schlechteren klinischen Ergebnis hinsichtlich erneuter ischämischer Ereignisse führen. Es gibt allerdings bisher keine prospektiven randomisierten kontrollierten Studien, die sich gezielt mit dieser Frage befassen. Die wichtigste Konsequenz dieser Interaktion für den präklinisch tätigen Arzt bleibt aus unserer Sicht vorerst, die i.v. Injektion von Morphin auf Patienten mit starken Schmerzen zu beschränken.

Literatur

  1. Hobl, E.-L., et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2014, 63, 630. Link zur Quelle Erratum J. Am. Coll. Cardiol. 2018, 72, 705.
  2. Kubica, J., et al. (IMPRESSION = Influence of morphine on pharmacokinetics and pharmacodynamics of ticagrelor in patients with acute myocardial infarction): Eur. Heart J. 2016, 37, 245. Link zur Quelle
  3. McEvoy, J.W., et al. (PACIFY = Platelet Aggregation with tiCagrelor Inhibition and FentanYl): Circulation 2018, 137, 307. Link zur Quelle
  4. Meine, T.J., et al. (CRUSADE = Can Rapid risk stratification of Unstable angina patients Suppress ADverse outcomes with Early implementation of the ACC/AHA guidelines?): Am. Heart J. 2005, 149, 1043. Link zur Quelle
  5. Montalescot, G., et al. (ATLANTIC = Administration of Ticagrelor in the cath Lab or in the Ambulance for New ST elevation myocardial Infarction to open the Coronary artery): N. Engl. J. Med. 2014, 371, 1016. Link zur Quelle
  6. Batchelor, R., et al.: Catheter Cardiovasc. Interven. 2019 Oct 26. Link zur Quelle
  7. Furtado, R.H.M., et al. (EARLY ACS = EARLY Glycoprotein IIb/IIIa inhibition in patients with non-ST-segment elevation Acute Coronary Syndrome): J. Am. Coll. Cardiol. 2020, 75, 289. Link zur Quelle
  8. AMB 2016, 50, 35. Link zur Quelle