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Ocrelizumab: ein therapeutischer Durchbruch bei der primär progredienten Multiplen Sklerose?

Ocrelizumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der sich gegen CD20-positive B-Zellen richtet. Er steht seit März 2018 zur Therapie der Multiplen Sklerose (MS) zur Verfügung. Auf der Grundlage zweier Studien, die den Wirkstoff mit Interferon beta-1a verglichen, ist Ocrelizumab (Ocrevus®, Roche) zur Behandlung erwachsener Patienten mit schubförmiger MS (relapsing multiple sclerosis = RMS) mit aktiver Erkrankung zugelassen (1). Zudem erhielt Ocrelizumab eine Zulassung zur Behandlung der frühen primär progredienten Multiplen Sklerose (primary progressive multiple sclerosis = PPMS) durch die europäische und die US-amerikanische Arzneimittelbehörde (EMA, FDA). Er ist damit der erste für diese spezielle Indikation zugelassene Wirkstoff.

Etwa 10-15% der Patienten mit MS sind von der PPMS betroffen, bei der es ohne Schubaktivität von Beginn an zu einer langsam zunehmenden neurologischen Behinderung kommt. Sie unterscheidet sich von der schubförmigen MS nicht nur durch den Verlauf: Das Alter bei Erstmanifestation liegt etwa 10 Jahre höher, beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen und pathophysiologisch dominieren neurodegenerative gegenüber entzündlichen Prozessen, die sich überwiegend im Rückenmark abspielen.

Die multizentrische, doppelblinde, randomisierte, plazebokontrollierte Zulassungsstudie mit dem Namen ORATORIO untersuchte Ocrelizumab bei Erwachsenen mit PPMS über eine Dauer von mindestens 120 Wochen (2). Eingeschlossen wurden Erwachsene bis 55 Jahre und einem Expanded-Disability-Status-Scale (EDSS)-Score von 3 bis 6,5 Punkten (0 Punkte = normaler neurologischer Befund; 10 Punkte = Tod infolge MS; vgl. 11). Patienten wurden im Verhältnis 2:1 den Studienarmen Ocrelizumab (n = 488) und Plazebo (n = 244) zugeteilt und erhielten über den gesamten Studienzeitraum alle 6 Monate 2 Infusionen mit 300 mg Ocrelizumab im Abstand von 2 Wochen oder Plazebo.

Eine nach 12 Wochen bestätigte Progression der Behinderung (primärer Endpunkt) fand sich unter Ocrelizumab bei 32,9% und unter Plazebo bei 39,3% der Patienten (Hazard Ratio = HR: 0,76; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,59-0,98). Dieser Effekt ist auch nach 24 Wochen nachweisbar: 29,6% vs. 35,7%; HR: 0,75; CI: 0,58-0,98; (sekundärer Endpunkt). In dieser Analyse sind allerdings auch 21 Patienten berücksichtigt, die nach initialer Progression der Behinderung die Studie abgebrochen hatten und für die somit kein Fortschreiten der Behinderung zu diesem Zeitpunkt bestätigt werden kann. Wenn für diese Patienten keine Progression der Behinderung angenommen wird, ergibt sich hinsichtlich des primären Endpunkts kein signifikanter Therapieeffekt mehr (HR: 0,82; CI: 0,63-1,07; vgl. 3). Die der Publikation zugrunde liegende Analysemethode wurde mit dem Hinweis auf eine geringe Rate von Fluktuationen bei der PPMS begründet. Tatsächlich aber konnte in beiden Studienarmen eine initiale Progression der Behinderung nur bei etwa der Hälfte der Patienten nach 12 Wochen bestätigt werden (4). Ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Lebensqualität (ermittelt anhand von SF-36: Fragebogen zur Beurteilung des Gesundheitszustands) ergab sich nicht. Neuroradiologische (sekundäre) Endpunkte zeigten einen hochsignifikanten Effekt von Ocrelizumab auf die Krankheitsaktivität: Das Volumen von Läsionen in der T2-gewichteten MRT sank innerhalb 120 Wochen unter Ocrelizumab im Mittel um 3,4% und stieg unter Plazebo um 7,4% (p < 0,001). Subgruppenanalysen lassen vermuten, dass Patienten, die jünger als 45 Jahre sind, und bei denen Gadolinium-aufnehmende Läsionen im MRT nachgewiesen werden, am meisten von Ocrelizumab profitieren könnten (3).

Häufige unerwünschte Ereignisse (UE) unter Ocrelizumab sind infusionsbedingte Reaktionen, die trotz Vormedikation mit Methylprednisolon und optional Antihistaminika und Antipyretika bei bis zu 40% der Patienten auftraten (1, 2). In Studien zu Ocrelizumab bei Rheumatoider Arthritis und Lupus erythematodes waren vermehrt schwerwiegende und/oder opportunistische Infektionen aufgetreten und hatten zum Studienabbruch geführt (3, 5). In den Studien zur Behandlung der PPMS und RMS war dies nicht der Fall (1, 2). Maligne Erkrankungen traten unter Ocrelizumab (n = 11; 2,3%) etwas häufiger als unter Plazebo (n = 2; 0,8%) auf, insbesondere Brustkrebs (n = 4). In der ORATORIO-Studie wurde wegen UE die Behandlung mit Ocrelizumab bei 4,1% und unter Plazebo bei 3,3% der Patienten abgebrochen (1, 2).

Sechs Mitglieder des Europäischen Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) sprachen sich gegen die Zulassung von Ocrelizumab zur Behandlung der PPMS (und RMS) und aus. Ihre Kritik bezog sich vor allem auf die Ergebnisse der ORATORIO-Studie, die hinsichtlich statistischer und klinischer Gesichtspunkte (z.B. interne und externe Validität, nachgewiesene Wirksamkeit, Qualität der Daten) als nicht überzeugend bewertet wurde. Außerdem wurden für die Zulassung von Ocrelizumab bei PPMS nur Ergebnisse einer konfirmatorischen klinischen Studie vorgelegt (3). Mit Rituximab steht ein weiterer chimärer monoklonaler gegen CD20 gerichteter Antikörper zur Verfügung. Er wird seit 20 Jahren v.a. in onkologischen und rheumatologischen Indikationen eingesetzt (vgl. 10), und sein Risikoprofil ist im Gegensatz zu Ocrelizumab sehr gut bekannt. Außerdem liegen die Kosten für Rituximab bei etwa einem Zehntel der Kosten für Ocrelizumab (Jahrestherapiekosten 33.323 €). Bei der schubförmigen MS reduziert Rituximab Krankheitsschübe, kann bisher aber nur off-label eingesetzt werden (6, 7). Bei der PPMS war eine randomisierte plazebokontrollierte Studie mit Rituximab zwar negativ, aber ähnlich wie bei der ORATORIO-Studie zeigte sich ein deutlicher Trend für eine Wirksamkeit bei jüngeren Patienten mit Nachweis von Entzündungsaktivität im MRT (3, 8). Das Patent für Rituximab ist inzwischen abgelaufen, und seit 2017 sind Biosimilars zu Rituximab zugelassen. Roche hatte vermutlich deshalb kein Interesse an weiteren klinischen Studien zur Behandlung der RMS oder PPMS mit Rituximab und einer Indikationsausweitung.

Fazit: Die Zulassung von Ocrelizumab als erster Wirkstoff zur Therapie der PPMS ist problematisch, denn sie beruht auf einer einzigen Studie, die zudem hinsichtlich patientenrelevanter Endpunkte keine überzeugenden Daten liefert. Anhand der Zulassungsstudie kann lediglich vermutet werden, dass Ocrelizumab bei der PPMS im frühen Stadium und bei nachgewiesener Entzündungsaktivität die Progression der Behinderung verzögert. Die Langzeitsicherheit von Ocrelizumab ist bisher unklar, v.a. hinsichtlich opportunistischer Infektionen und Malignomen. Dass es nicht möglich ist, aus Ergebnissen einer Zulassungsstudie auf die Langzeitverträglichkeit zu schließen, zeigt das Beispiel Daclizumab: Ein monoklonaler Antikörper, der zur Behandlung der aktiven schubförmigen MS zugelassen war, wurde wegen immunvermittelter, teilweise letal verlaufender Enzephalitiden kürzlich vom Markt genommen (9).

Literatur

  1. Hauser, S.L., et al. (OPERA I und OPERA II): N. Engl. J. Med. 2017, 376, 221. Link zur Quelle
  2. Montalban, X., et al. (ORATORIO): N. Engl. J. Med. 2017, 376, 209. Link zur Quelle
  3. http://www.ema.europa.eu/… Link zur Quelle
  4. https://www.accessdata.fda.gov/… Link zur Quelle
  5. Emery, P., et al.: PLoS One 2014, 9, e87379. Link zur Quelle
  6. Hauser, S.L., et al. (HERMES): N. Engl. J. Med. 2008, 358, 676. Link zur Quelle
  7. Piehl, F., und Hillert, J.: Mult. Scler. 2018 Feb 1:1352458518757930. Link zur Quelle
  8. Hawker, K., et al. (OLYMPUS): Ann. Neurol. 2009, 66, 460. Link zur Quelle
  9. Lancet 2018, 391, 1000. Link zur Quelle Vgl. AMB 2018, 52, 44. Link zur Quelle
  10. AMB 2000, 34, 61b Link zur Quelle . AMB 2005, 39, 43 Link zur Quelle . AMB 2010, 44, 67 Link zur Quelle . AMB 2011, 45, 04 Link zur Quelle . AMB 2016, 50, 36 Link zur Quelle .
  11. AMB 2010, 44, 41. Link zur Quelle